Dr. Dieter Meischner, Professor für Geologie
Universität Göttingen, Zentrum Geowissenschaften,
Goldschmidt-Strasse 3, D 37077 Göttingen                                           ,02.04.2001

Der Göttinger Neandertaler

 

 UP Im Museum des Göttinger Zentrums für Geowissenschaften befindet sich das ausdruckstarke Portrait eines nicht bekleideten jungen Mannes (Abb. 1). Er ist lebensgroß in Öl auf Leinen gemalt. Der Mann ist im Profil dargestellt, sein Blick ist in die Ferne gerichtet, sein Mund geschlossen, aber nicht verkniffen. Er ist glatt rasiert, die dunklen Haare sind kurz geschnitten. Der Eindruck energischer Entschlossenheit wird betont durch einen überaus muskulösen Hals.

Überaus? Ist nicht alles an diesem Mann ein wenig "überaus" -- das starke Augendach, die große Nase, der massige Unterkiefer? -- Es handelt sich um das Portrait eines Neandertalers!

Sehen wir das Portrait noch einmal kritisch an! Muskeln, Gesicht und Ohren sind korrekt auf einen typischen Neandertaler-Schädel modelliert worden. Die Rekonstruktion hat Othenio Abel geschaffen, damals Professor für Paläontologie an der Universität Göttingen. Abel war ein Meister der Rekonstruktion fossiler Wirbeltiere, deren Weichgewebe er dem Skelett nach strengen anatomischen Regeln aufmodellierte (Abel 1925). So ist auch sein Göttinger Neandertaler eine meisterhafte Rekonstruktion. Der damalige akademische Maler, Franz Roubal, hat das Bild nach Anweisung von Abel im Jahre 1936 gemalt und signiert.

Aber: Wer hatte jemals zuvor einen Neandertaler glatt rasiert, mit kurzer Frisur und sogar ohne Behaarung der Brust dargestellt? Die Anthropologen Straus und Cave haben gemeint, ein Neandertaler könnte gebadet, rasiert und korrekt gekleidet ohne aufzufallen in der New Yorker Metro fahren (teste Tattersall 1999: 107). Aber da handelte es sich um ein Aperçu, eine bewusste Überspitzung, und diese ist 20 Jahre jünger als Abels Rekonstruktion.

Das Göttinger Portrait hatte einen ernsthaften wissenschaftlichen Anlass. In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts kam die Vorstellung auf, der Neandertaler könnte der unmittelbare Vorfahre des modernen Menschen sein, eine gerade Linie könnte vom Heidelberger über den Steinheimer und den Neandertaler zum Westfalen führen, so dass der Scherz umlief, alle Ur-Menschen wären Deutsche gewesen, hätten wenigstens deutsche Namen gehabt. Wenn aber der Neandertaler ein früher "Arier" gewesen ist, dann sollte er zivilisiert dargestellt werden.

Es fasziniert zu sehen, wie man sich den Neandertaler seit seiner Entdeckung vorgestellt und ihn vermeintlich objektiv wissenschaftlich rekonstruiert hat. Vor Darwins Abstellungslehre konnte er nur eine Abnormität sein, ein plattköpfiger, säbelbeiniger Kretin, der keiner Rekonstruktion, allenfalls einer pathologischen Analyse bedurfte. Dies obwohl besonnene Anatomen, so der Gymnasiallehrer Fuhlrott, ihn für einen eiszeitlichen Menschen hielten. Als die Existenz fossiler Menschen allgemein anerkannt war, sah man den Neandertaler vom 19. Jahrhundert bis in die 1930er Jahre als wilden, finster blickenden, zottigen "Primitiven". Auch Abel (1931: 68) hatte ihn noch 1926 als haarigen Großwildjäger dargestellt, wenn auch mit Knotenfrisur und Halskette aus Bärenkrallen, die ihn als kunstsinnigen Wilden erscheinen lassen (Abb. 2). Noch im selben Jahr des Portraits Abels veröffentlichte Schuchhardt (1936. Tafel 1, 6) die Darstellung eines furchterregenden Vertreters der "Neandertal-Rasse" der Älteren Steinzeit (Abb. 3).

Vor diesem Hintergrund ist der Göttinger Neandertaler ebenso ein Dokument der dermoplastischen Rekonstruktionskunst des großen Othenio Abel wie ein Selbstbildnis unserer Väter. Bei den Olympischen Spielen 1936 wäre er kaum aufgefallen, und vielleicht wäre er sogar als Parteigenosse oder in Uniform willkommen gewesen.

Und wie sehen wir den Neandertaler heute? Die Annahme, dass er ein Vorfahre des modernen Europäers wäre, dass seine Gene noch in uns wirksam wären, scheint sich nicht zu bestätigen. Er ist wohl nach langer Koexistenz mit dem modernen Homo sapiens ausgestorben, ohne dass es dafür ein offenbares Zeichen einer gewaltsamen Auseinandersetzung gäbe.

Das Neanderthal-Museum in Mettmann am Fundort des ersten Vertreters seiner Art zeigt ihn mit gestutztem Vollbart und langem Haupthaar, gepflegt jetzt und mit mildem Blick (Abb. 4). Sieht er nicht aus wie Nachbars aus der Art geschlagener Schwager, das ehemalige Blumenkind? Wenn auch diese Rekonstruktion ein Selbstbildnis unserer Generation ist, sollte uns vor der Zukunft nicht bange sein.

Indessen geht die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Portraits über solche Zeitbezüge hinaus. Othenio Abel, der Schöpfer des Göttinger Neandertalers, war der Gründer der Paläobiologie, ein Meister der Rekonstruktion fossiler Wirbeltiere, ein kenntnisreicher Anatom und Anthropologe. Über alle drei Fachgebiete hat er viel beachtete Bücher verfasst. Seine Erfahrungen hat er nicht nur in Europa gesammelt, sondern ebenso auf dem nordamerikanischen Kontinent und im Austausch mit prominenten amerikanischen Kollegen. Trotzdem ist er dem Autor des zuletzt erschienenen populärwissenschaftlichen Buches über den Neandertaler, dem amerikanischen Anthropologen Ian Tattersall, keine Erwähnung wert -- dies trotz eines langen Kapitels über Fund und Deutung der Neandertaler bei Abel (1931: 65-75).

Abels (1931) Buch und seine Rekonstruktionen sind Meilensteine in der Geschichte des Verständnisses des fossilen Menschen, weil "...die Rekonstruktion eines fossilen Tieres einen wesentlichen Bestandteil der wissenschaftlichen Erforschung desselben bildet..." (Abel, 1925, S. V). Das gilt wenigstens ebenso für den fossilen Menschen, nur wird am Beispiel des Menschen deutlicher, wie weit subjektive Urteile und Voreingenommenheit in eine vermeintlich objektive wissenschaftliche Erkenntnis eingehen.

Dank

Dem Direktor des Neanderthal-Museums, Professor Dr. Gerd-C. Weniger, danke ich für die Erlaubnis, die Dermoplastik von Mme. Daynes zu reproduzieren, und für die freundliche Durchsicht einer früheren Fassung des Manuskripts.

 

Literatur

Abel, O.: Die Stellung des Menschen im Rahmen der Wirbeltiere.-- 298 S., 276 Abb., Verlag G. Fischer, Jena 1931.

Abel, O.: Geschichte und Methode der Rekonstruktion vorzeitlicher Wirbeltiere.-- V + 324 S., 255 Abb., Verlag G. Fischer, Jena 1925.

Neanderthal-Museum, Mettmann: http://www.neanderthal.de

Schuchhardt, C.: Deutsche Vor- und Frühgeschichte in Bildern.-- 11 S., 80 Taf., Verlag R. Oldenbourg, München und Berlin 1936.

Tattersall, I.: Neandertaler. Der Streit um unsere Ahnen.-- Aus dem Amerikanischen von Hans-Peter Krull, 216 S., 143 + 3 Abb., Birkhäuser Verlag, Basel 1999.

 

(Erläuterungen zu Abbildungen)

 Fig .1 Portrait eines jungen Neandertalers, Rekonstruktion von Othenio Abel, Öl auf Leinwand von Franz Roubal, 1936. Original im Museum des Göttinger Zentrums für Geowissenschaften der Universität. Foto digital und Retusche: Ulrich Bielert/Dieter Meischner.
 Fig. 2 Rekonstruktion des Neandertalmenschen als Großwild-Jäger von Othenio Abel, Zeichnung von akademischem Maler Franz Roubal, 1926. Aus Abel 1931: 68, Fig. 45.
 Fig. 3 Darstellung des Neandertalers nach F. Krupka aus Schuchhardt (1936, Abb. 6). Zur Verdeutlichung freigestellt (digital retuschiert).

 

 Fig. 4 Fig. 4 Dermoplastische Rekonstruktion eines Neandertalers im Neanderthal-Museum, Mettmann, von Mme. Elisabeth Daynes, Paris. Reproduziert mit Erlaubnis der Direktion des Neanderthal-Museums.
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